Zehn Jahre Russischer Frühling: Wie der Aufstand im Donbass ein Wunder bewirkte
Von Wladislaw Sankin
Das Titelbild für diesen Artikel ist am 1. März 2014 in Charkow entstanden – der ostukrainischen Großstadt Charkiw, wie die deutschen Medien zu schreiben pflegen. Aufgenommen wurde das Foto kurz nach der Erstürmung der Gebietsverwaltung, in der sich mehrere Dutzend ukrainische Nationalisten verschanzt hatten. Sie hatten das Gebäude eine Woche zuvor besetzt, am Tag nach dem blutigen Staatsstreich in Kiew – um zu zeigen, dass auch diese Stadt ihnen gehorchen muss. Diese Gruppe hatte auch versucht, ein Lenin-Denkmal vom Sockel zu stoßen, wie sie es am 8. Dezember 2013 in Kiew im Zuge der Maidan-Ausschreitungen gemacht hatten. Das gelang ihnen Jahre später während der sogenannten "Dekommunisierung", aber in diesen März-Tagen hatten die prorussischen Kräfte noch knapp die Oberhand in der Stadt.
Der Vorstoß der Nationalisten hat Tausende Charkower wütend gemacht, und sie begannen spontan, sich zu sammeln um das, was ihnen wichtig ist, zu schützen. Ihre Wut wuchs von Tag zu Tag, als immer klarer wurde, was die neuen Machthaber mit dem russischen Teil der Ukraine vorhaben – die Errichtung eines nationalistischen Apartheidstaates im Status einer EU-Kolonie und eines gegen Russland gerichteten NATO-Brückenkopfes: Die Entrechtung der Russischsprachigen war der erste Beschuss der Putschisten.
Die Wut entlud sich schließlich in der Erstürmung der besetzten Gebietsverwaltung. Die Nationalisten wurden von mit Stöcken bewaffneten prorussischen Aktivisten gefasst und durch einen sogenannten Korridor der Schande geführt. Die kurzzeitige Lynchstimmung der Menge ist schließlich Freude und Jubel gewichen. Viele haben die russischen Fahnen geschwenkt. Auch auf dem Dach des Gebäudes wurde die russische Fahne aufgepflanzt. Die Polizei hinderte die Leute nicht daran, denn die Macht in Charkow war, wie an diesen Tagen auch sonst vielerorts im Südosten, im Schwebezustand. So ging es in Charkow weiter, bis wenige Wochen später die Volksrepublik Charkow ausgerufen wurde.
Doch in Charkow scheiterte sie. Dort waren die Machtverhältnisse in der Stadt etwas anders als in den benachbarten Gebieten Donezk und Lugansk. Anfang April wurde über das weitere Schicksal dieser Städte endgültig entschieden. In der Nacht zum 7. April wurde in Lugansk eine Gruppe prorussischer Aktivisten vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU verhaftet. Am selben Tag stürmten einfache Einwohner der Stadt das SBU-Gebäude, und die Aktivisten wurden befreit. Ein Nebeneffekt der Erstürmung: Das prall gefüllte Waffenarsenal mit Feuerwaffen wurde erbeutet. Von diesem Moment an war der Aufstand bewaffnet. Den Kern der künftigen Volkswehr bildeten Ex-Marinesoldaten, in ihrem zivilen Leben Kleinunternehmer, Bergleute und Arbeiter.
Der Funke sprang noch am selben Tag auf Donezk über, wo am 7. April die Volksrepublik Donezk ausgerufen wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Gebietsverwaltung schon längst unter Kontrolle der Aktivisten. Ähnliche Prozesse liefen in anderen Donbass-Städten ab – in Slawjask, Kramatorsk oder Mariupol. Am 7. April befahl der Interimspräsident der Putschisten Alexander Turtschinow den Beginn des Militäreinsatzes gegen die Aufständischen, der unter den euphemistischen Begriff "Antiterroroperation" gefasst wurde.
Die Rebellen, die zu diesem Zeitpunk niemanden getötet hatten, wurden vom Kiewer Regime zu Terroristen erklärt (ein späterer Versuch, DVR und LVR bei den UNO zu terroristischen Organisationen zu erklären, scheiterte). Die aggressiven Absichten der neuen Machthaber drückten sich entlarvend in deren überhöht martialischer Sprache aus.
Der Militäreinsatz gegen die Rebellion kam zunächst schleppend voran – Soldaten der regulären Armee wollten schlicht nicht gegen die eigenen Bürger kämpfen. Die Frauen stellten sich vor ihre Panzerfahrzeuge, Dutzende Soldaten liefen in den ersten Tagen zur Volkswehr über. Dann schlug die Stunde der nationalistischen Bataillone – unter der Obhut des neuen Innenministers Arsen Awakow zusammengestellt und von ukrainischen Oligarchen bezahlt. Sie sollten die Kampfmoral der Truppen im Kampf gegen den aufständischen Donbass stärken. Schließlich gelang es den neuen Machthabern, die Flamme des Bürgerkrieges zu entfachen.
Zu diesem Moment war die Krim schon russisch. Den Donbass-Rebellen hat der Kreml dagegen seine politische Unterstützung verwehrt. Er wollte die Ukraine nicht in Stücke reißen und Frieden sowie Diplomatie eine Chance geben.
Aus heutiger Perspektive hat Russland inkonsequent gehandelt. Auch mit dem Westen wollte Russland keinen allzu großen Streit wegen der Ukraine wagen. Wie die Publizistin Christiane Reymann es ausgedrückt hat: Zu viele "diplomatische Verstrickungen" hätten Russland daran gehindert, die Donbass-Republiken zumindest anzuerkennen. Die späteren Minsker Abkommen ging ausgerechnet aus dieser Mentalität hervor.
Dabei hatte Russland damals alle Chancen, wenigstens den russisch geprägten Teil der Ukraine vergleichsweise unblutig unter seine Kontrolle zu bringen. Das Fenster der Möglichekeit war zwar klein, aber es war da. Vom rechtlichen Gesichtspunkt aus wäre dies möglich gewesen. Russland hat den illegitimen Staatsstreich in Kiew nicht anerkannt. Die massive Einmischung des Westens in die Maidan-Revolte war für jedermann offensichtlich. Aber das Wichtigste – mit dem Verstoß gegen das Gebot der Nichteinmischung war sie auch völkerrechtswidrig. Hätte die legitime und demokratisch gewählte Führung des Landes, die Ende Februar nach Russland geflohen war, Russland offiziell um Hilfe gebeten, hätte Russland in Charkow, Donezk und Odessa und dann weiter – in Dnjepropetrowsk, Saporoschje und möglicherweise sogar Kiew einmarschieren können.
Dabei wären die russischen Streitkräfte auf keinen allzu großen militärischen Widerstand gestoßen. Auch die Loyalität des Großteils der Bevölkerung im ukrainischen Südosten wäre dann garantiert. Ein Krim-Szenario war also durchaus möglich, eventuell mit etwas mehr Widerstand der ukrainischen Amree, aber es war grundsätzlich möglich. Auch im ukrainischen Streitkräften und dem Sicherheitsapparat gab es damals noch viele Russland-Anhänger. Die Soldaten, die auf die Donbass-Rebellen schießen sollten, waren desorientiert und schlecht ausgerüstet – die ukrainische Armee war objektiv sehr schwach.
Und der Westen, der geopolitische Gegner, der den Machtwechsel in Kiew inspiriert hatte (als Angela Merkels "Großes Spiel"), bereitete sich auf diese Entwicklung vor. Viele erinnern sich noch an die endlosen Talkshows mit Titeln wie "Was will Putin?", "Wie weit will Putin gehen?" usw. Als Wladimir Putin im Sommer einmal das Wort "Noworossija" (Neurussland) erwähnt hat, veröffentlichten die deutschen Medien viele Artikel dazu. Den russischen Anspruch auf diese historische Region in der Ukraine haben sie zwar kritisiert – aber sie nahmen ihn ernst und bereiteten sich zumindest auf Schaffung einer Landbrücke zur Krim vor. Dieses "minimalistische" Szenario wurde erst nach acht Jahren Realität und wurde mit einem hohen Blutzoll erkauft.
Aber zu solch großen Veränderungen fehlte dem Kreml damals noch der politische Wille. Russland erkannte den am 26. Mai gewählten neuen Präsidenten der Ukraine Petro Poroschenko als Verhandlungspartner an und schlug der Ukraine Neutralität und ein Föderalisierungsmodell vor. Dabei unterstütze Russland die Donbass-Rebellen verdeckt und handelte sich damit dennoch den Vorwurf der Agression gegen die Ukraine einhandeln. Also, "böse" war Russland trotzdem.
Mit der Sommeroffensive der Kiewer Streitkräfte gerieten die Aufständischen schnell ins Bedrängnis. Mit kleinen verdeckten Eingriffen mit Soldaten "im Urlaub" wie etwa im Kessel von Debalzewo hat Russland sie vor einer Niederlage gerettet. Aber das geschah erst, nachdem die Donbass-Rebellion ihre Widerstandsfähigkeit und die Fähigkeit zu staatlichem Handeln bewiesen hatte. Angetrieben worden war sie durch die spontane politische Kreativität der Massen, die ihre eigenen, manchmal konkurrierenden Anführer bereitstellten.
Und so wurde vor unseren Augen Geschichte geschrieben. Das Unabhängigkeitsreferendum am 11. Mai haben die beiden selbst ausgerufene Volksrepubliken Donezk und Lugansk entgegen Empfehlungen des russischen Präsidenten auf eigenes Risiko durchgeführt.
Und dies war der Schlüsselmoment. Im März, April und Mai 2014 erhoben die Russen in der Ukraine ihre Stimme gegen den Nationalismus und zeigten sich zum ersten Mal in der jüngsten Geschichte entschlossen, für ihre Ideale zu kämpfen – und zu sterben. Sie fühlten sich in den elementarsten Bereichen bedrängt und beschnitten, die einen russischen Menschen überhaupt ausmachen – Sprache, Kultur und identitätsstiftende Ehrung der Helden im Großen Vaterländischen Krieg. Sie kämpften für das Recht, sie selbst zu sein.
Im Unterschied zur durchorchestrierten Maidan-Bewegung hat keine einzige NGO ihren Protest finanziert. Ihre Anführer haben keine westlichen Kurse für Führungskräfte und "Good Governance" absolviert, ihre Journalisten keine Stipendien erhalten. Und auf Russland konnten sie auch nicht wirklich verlassen – zu widersprüchlich waren die Signale aus Moskau. Diese einfachen Menschen sind Russland nicht gefolgt, sondern haben ihm eher getrotzt – dem liberalen, sorglos-naiven, noch auf Einigung mit dem Westen hoffenden Russland. Ihre Beharrlichkeit hat am Ende gesiegt, und mit ihr haben sie Weltgeschichte geschrieben. Improvisierend, kampfesmutig, entschlossen.
Wie etwa die Gruppe aus drei vermummten Aktivistenanführern aus Lugansk, die in einer kurzen Videobotschaft am 6. April vor laufender Kamera ihre Masken abgenommen haben. Innerhalb von nur einer Minute haben sie sich aus unbekannten Aktivisten in Kämpfer mit Klarnamen verwandelt. Unter ihnen war der erste Chef der Volksrepublik Lugansk Waleri Bolotow.
Ab nun an gab es keinen Weg zurück. Doch die Kalaschnikows, die sie zuvor in einem vorherigen Video in der Hand gehalten haben, waren Attrappen, wie sie später erzählt haben. Das war ihre erste "Kriegslist". Am nächsten Tag haben sie aber schon das SBU-Arsenal mit echten Waffen erbeutet – wieder vor laufenden Kameras. "Sie sollten uns nicht belehren, wie wir zu leben haben", sagte der erste Rebellenkommandeur Sergei Gratschew über Kiew. "Ich bin 50 und weiß, wie ich zu leben habe." Alles, was die Aufständischen an diesen Tagen von sich gegeben haben, war volksnah, authentisch und echt. Politisch war es eine breite Allianz: Kosaken, Kommunisten und Rechtskonservative schlossen sich ihnen gleichermaßen an.
Oder auch Menschen wie der jüngste Kämpfer in der Donezker Volkswehr der ersten Stunde Andrei Beloussow – nach Selbstauskunft ein Russe aus Kiew. Noch als 14-jähriger Schüler der Kiewer Kadettenschule hatte er 2012 die russische Fahne vor der Schändung durch eine Horde wütender Nationalisten gerettet. Nach dem Maidan fuhr er als 16-Jähriger auf die Krim und schloss sich einer bewaffneten Volkswehreinheit von Igor Girkin (auch bekannt als Strelkow) an. Am 12. April kam er mit 51 anderer Kämpfern heimlich als Mitglied dieser Abteilung im Zuge eines Überraschungsangriffs von Krim nach Slawjansk. In Slawjansk schloss er sich dem legendären Bataillon Sparta als Militärmediziner an.
Heute ist Andrei ein erfahrener Kämpfer und kümmert sich um Nachwuchs in Jugendorganisationen. Er nahm am Weltjugendfestival in Sotschi teil und sprach während einer Fragerunde öffentlich mit dem russischen Präsidenten. Die Kameras waren auf ihn gerichtet, und er war von jungen Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe umgeben. Beide, der damals jüngste Kämpfer und Putin, redeten von einer Welt ohne Nationalismen. Putin bedanke sich bei dem jungen Helden für seine Position. Nach zehn Jahren wurde aus einem prorussischen Aktivisten in der Ukraine ein Kämpfer für die Befreiung von der Diktatur des Westens im weltweiten Maßstab.
Nur wenige Helden des Russischen Frühlings hatten das Glück, in ihrem Kampf am Leben zu bleiben. Aber sie haben das Glück, von ihren Nachfahren als Helden geehrt zu werden: Arsen Pawlow (Motorola), Michail Tolstych (Giwi), Alexander Sachartschenko oder Wladimir Schoga. Alle wurden von der Ukraine heimtückisch getötet. Nicht auf dem Schlachtfeld, sondern aus dem Hinterhalt. Donezker Rebellen haben sich im Unterschied zu ihrem Gegner niemals Mitteln des Terrors und Morde im Hinterland bedient und auch das beweist einmal mehr die Richtigkeit ihres Handelns.
Sie sind tot, aber das Recht blieb auf ihrer Seite, weil das, wofür sie gekämpft haben, Realität geworden ist. Nun ist nicht nur der Donbass Teil Russlands, sondern auch Saporoschje und Cherson, die zu Neurussland gehören. Sie haben mit ihren Taten Geschichte geschrieben, Weltgeschichte. Denn der gegen Russland gerichtete Ukrainismus ist zu einer globalen Waffe des ultraglobalistischen Westens geworden. Mit seiner Hilfe wollte der Westen den militärisch stärksten Akteur der multipolaren Weltordnung, Russland, außer Gefecht setzen und später, bei der nächsten Gelegenheit, zerteilen.
Doch die Ukraine verliert, und ihre Staatlichkeit wird scheitern. Kein Land der Welt kann auf Dauer als riesiges Militärunternehmen im Dienste fremder Mächte überleben. Mit der Ukraine wollte der Westen Russland eine Falle stellen. Und die Pioniere des Russischen Frühlings im Donbass, in Charkow und Odessa waren diejenigen, die diese unheimliche Gefahr, die von der Ukraine für Russland ausgeht, rechtzeitig erkannt haben. Da waren sie Moskau weit voraus. Es hat noch Jahre gedauert, bis diese Erkenntnis sich auch bei den russischen Führungseliten durchgesetzt hat. Und mit dieser Weitsicht haben diese einfachen Bergleute und Kleinunternehmer ein Wunder bewirkt.
Sie haben nur für die Vereinigung mit ihrem Vaterland Russland gekämpft. Mit ihrem Kampf haben sie aber etwas angestoßen, dessen Folgen heute noch schwer abzusehen ist. Aber was aus heutiger Sicht schon erkennbar ist: Sie haben die Falle des Westens umgekehrt. Nun ist aus einer Ukraine-Falle für Russland eine Russland-Falle für den Westen geworden.
Die Ukraine steuert in ihrer heutigen Form als Anti-Russland unausweiclich auf eine Kapitulation zu. Eine Kapitulation Kiews würde einen katastrophalen Macht- und Ansehensverlust für den Westen bedeuten – konkret für Washington, London, Brüssel und Berlin. Und das wird die schon jetzt unübersehbaren Verschiebungen im Weltgefüge vielfach beschleunigen. Die Welt wird zumindest eine Chance auf eine gerechtere Weltordnung bekommen. Und der Russische Frühling 2014 stand am Anfang dieser Entwicklung.
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.